Schwerelosigkeit beim Spitzentanz bedeutet Schmerz
Ausverkaufte Stadthalle beim Ulmer Tanztheater
veröffentlicht in der Schwäbischen Zeitung vom 05.04.2022
Aufräumen mit Klischees rund um Ballett und Tänzerberuf war die Mission von Reiner Feistel, der zusammen mit acht Solotänzer des Ulmer Tanztheaters nach Bad Waldsee gekommen war. Ein sehr junges Publikum belegte die rund 250 Plätze in der restlos ausverkauften Stadthalle am Samstagabend. Komplette Tanzklassen der hiesigen Ballettschulen, Mütter mit Töchtern, aber vielleicht nur ein Dutzend Männer, waren gekommen, um hautnah zu sehen und zu hören, wie sich der Beruf des Tänzers entwickelt hat und wo er heute steht.
In der Tat war der Abend keine typische Tanzaufführung, sondern ein kurzweilig moderierender Feistel führte in die Geschichte, Hintergründe und Entwicklungen des professionellen Balletts ein. Kombiniert mit beeindruckenden Tanzeinlagen des Ensembles, wurde deutlich, dass der Tänzerberuf inzwischen eine wertgeschätzte Stellung in Kultur und Gesellschaft einnimmt. Selber jahrelang Berufstänzer, plauderte Feistel aus dem Nähkästchen und gab detaillierte Einblicke in den Alltag der von ihm geleiteten Tanztheater Company des Theaters Ulm. Täglich sieben Stunden Training und Probe prägen den Alltag des international besetzten Tanzensembles. Anhand verschiedener Tanzszenen aus dem Nussknacker, legte Feistel dar, dass ursprünglich der Tanz ein schmückendes Beiwerk der Oper war und vor allem „tanzende Körper“ zu sehen waren. Mit der Entwicklung einer eigenständigen Kunstgattung im 18. Jahrhundert wurde die Grundlage für das klassische Balletttraining gelegt, mit dessen Grundpositionen nach wie vor die jungen Eleven die Beweglichkeit, die Muskulatur und die Dynamik trainieren. Eine großartige Entwicklung, so Feistel, nahm die Tanzkunst mit dem Auftreten von Hiphop, Breakdance und anderen modernen Stilen, mit denen nun tänzerisch alles gemacht werden konnte, was der Körper erlaubt – und es entstand auch ein direkter Bezug von Geschichte und getanzter Bewegung. Die Tänzer Yoh Ebihara und Nora Paneva verdeutlichten im selbst Choreografierten Stück „1+1=1“ was Feistel meint. Der Frage „Why do you love me“ nachgehend, entwickeln die beiden einen körperlichen Dialog, in dessen Ausdrucksspektrum keine emotionale Empfindung ausgespart wurde.
Spitzentanz gebe es zwar in den von ihm choreografierten Stücken nicht, so Feistel, aber er gehört zur Geschichte des Balletts. Die Ulmer Trainingsleiterin Elena Lucas hatte während ihrer internationalen Tanzkarriere viele Jahre auf Spitze getanzt. Ergänzt mit hintergründigen Erklärungen von Feistel zur Technik, schwebte und tänzelte ihr Körper mehrmals quer durch die arenenartige Tanzfläche in der Stadthalle. Ein Hauch von Schwerelosigkeit, der für die Tänzerinnen vor allem eines bedeutet – Schmerz!
Nach einer guten Stunde Tanz in Theorie und Praxis waren die Zuschauerinnen begeistert und die geforderte Zugabe wurde von dem Ensemble gerne gewährt.
Ermöglicht wurde dieses einmalige Erlebnis für die Bad Waldseer Ballettinteressenten durch eine fruchtbare Kooperation von Personal Trainer Marcus Frank und Hans Ehinger von Spektrum K. „Es ist ein unglaubliches Erlebnis, nach zwei Jahren mal wieder eine volle Hütte zu sehen“ bedankte sich ein sichtlich gerührter Ehinger beim Publikum.
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