Kultur am See – Suchtpotenzial

Zwei Stunden lang die Welt vergessen

Suchtpotenzial macht viel Freude mit Programm „sexueller Belustigung“

veröffentlicht in der Schwäbischen Zeitung vom 14.03.2022

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Die vielen Monate der Kleinkunstabstinenz bei Kultur am See waren in und für kurze Zeit vergessen, als Julia Gámez Martin und Ariane Müller die Bühne am Haus am Stadtsee betraten. Das Programm „Sexuelle Belustigung“ der beiden Damen, die mit dem Künstlernamen Suchtpotenzial durch die Lande reisen, bot den 140 Zuschauern eine tempogeladene Melange aus scharfen Kalauern und pointierten Liedern. Die beiden bedienten sich der im Allgemeinen unmissverständlichen Sprache der Straße und so drangen, mitunter etwas derb und vulgär, sowohl die tiefere Botschaft, als auch die kalauernde Seite ihrer Themen direkt ins Kleinhirn der Zuschauer ein. Lachsalven und anerkennender Applaus wechselten sich ab.

Im thematischen Blumenstrauß, der als sexuelle Belustigung gebunden wurde, fand man das idealisierte Landleben, vielen Fragen zur Systemrelevanz und Gedanken zur ungleichen Entlohnung von Frauen und Männern. Diesem Reizthema wurde mit dem Punkrockstück „Männer wir sind genauso scheiße wie ihr“ Frust, Ironie und die Forderung nach gleicher Bezahlung entgegengeschmettert. Erschreckend auch das zunehmende Wissen über me-too Verfehlungen männlicher Protagonisten aller gesellschaftlichen Schichten. Die Empörung von Suchtpotenzial wird überlagert von der noch größeren Sorge, dass auch geschätzte und verehrte Angehörige des männlichen Geschlechts über kurz oder lang am Pranger stehen könnten. Ja selbst Suchtpotenzial – so viel Selbstironie darf natürlich immer sein – haben ihre moralisch blinden Flecken, die wahrscheinlich mit strenger Zensur unentdeckt bleiben würden. Selbstverständlich der falsche Ansatz und deshalb zeigt sich bei der weltverbessernden Ballade „Mett Tourette“ gegen den Fleischverbrauch schnell, dass Gámez Martin an einer Abhängigkeit von Fleisch leidet, was sehr eindrucksvoll mit einem musikalischen crossover aus Rammstein, Helene Fischer und Nina Hagen unterstrichen wurde. Doch kein Problem ohne Lösung – in diesem Fall werden statt Tiere einfach die Veganer gegessen. Nur gegen den Krieg zu sein genügt nicht, es braucht eine konkrete Strategie, die dem Waldseer Publikum warmherzig nahegelegt wurde. Animiert zum Mitsingen klappte der Refrain in den Varianten „Kiffen für den Frieden“, „Stricken für den Frieden“ und sogar in der Version mit dem F-Wort hervorragend.

Die musikalische und sprachliche Vielfalt von Suchtpotenzial zeigte sich in einem Countrysong, der seit dem Jahr 2019 „international“ und deshalb englischsprachig Werbung für Deutschland machen soll – ein Heimatlied quasi. Müller schickt in diesem Stück ihre Partnerin durch alle relevanten Dialektmetropolen. Es war zum einen sehr aufschlussreich, die deutschsprachigen Stämme mit ihren Marotten zu präsentieren, beeindruckend hingegen war die Souveränität mit der Gámez Martin die Dialekte pointiert präsentierte. Suchtpotenzial ist überzeugt davon, dass sie mit dem Song einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet haben, dass ab 2020 alle wieder Urlaub in Deutschland gemacht hatten. Soweit so gut.

Eine gewisse Toleranz beim Publikum war hilfreich, verbale Tabubrüche souverän zu betrachten, um Raum für hintersinnige Pointen zu schaffen. Zwei Stunden mit Suchtpotenzial boten oft unkonventionelle Lösungen für allerlei Alltagsmalästen, mit denen die humorige Ader der Besucher ausgiebig stimuliert wurde.

Nach dem gelungenen Start der neuen Spielsaison von Kultur am See, darf man sich auf die Fortsetzung der kurzweiligen Kleinkunstreihe bereits am 25. März freuen.

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